Herausforderungen Knorr-Bremse hatte kaum Einblick in die Produktion und benötigte umfassende Technologien, um eine einheitliche Anbindung der isolierten Maschinen in den Produktionsstätten zu erreichen sowie die Echtzeit-Überwachung von KPIs und GAE zu ermöglichen.

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So führt Knorr-Bremse innerhalb weniger Jahre gleich mehrere Digitalisierungsprojekte durch

Die Erfahrung zeigt, dass zur Digitalisierung des eigenen Unternehmens verschiedene Ansätze notwendig sind. In manchen Unternehmen schwebt sie noch immer wie ein Damoklesschwert über dem geschäftlichen und technischen Management, und es fehlt an einer konkreten Strategie oder einem Plan für effektive erste Schritte. Andere Unternehmen planen bereits das Gesamtkonzept und arbeiten eine komplette Digitalisierungsstrategie inklusive eines Maßnahmenkatalogs aus – und fragen sich danach, warum die Umsetzung in der Praxis nicht wie erwartet funktioniert. Wieder andere Unternehmen fangen klein an und gehen das Thema Schritt für Schritt mit Pilotprojekten an, um nach und nach erste Erfahrungen zu sammeln. Knorr-Bremse hat gezeigt, dass sich mit eben diesem Ansatz in Verbindung mit geeigneten Technologien innerhalb weniger Jahre viel erreichen lässt.

Erfolg durch globales Know-how

Seit mehr als 115 Jahren verfolgt Knorr-Bremse ein Ziel: sichere, nachhaltige und umweltverträgliche Mobilität auf Schiene und Straße zu ermöglichen. Der Konzern mit Hauptsitz in München ist heute der weltweit führende Hersteller von Bremssystemen sowie ein führender Anbieter weiterer Systeme für Schienen- und Nutzfahrzeuge. An über 100 Standorten in mehr als 30 Ländern in aller Welt sind etwa 29.000 Mitarbeiter für Kunden und Partner im Einsatz. 2019 erzielte der Konzern mit seinen beiden Unternehmensbereichen „Systeme für Schienenfahrzeuge“ und „Systeme für Nutzfahrzeuge“ einen Umsatz von 6,9 Mrd. Euro.

Die vernetzten Systemlösungen für Schienen- und Nutzfahrzeuge basieren zum Teil auf gemeinsamen Kerntechnologien, Komponentenarten und Materialien. Knorr-Bremse verfügt über eine Vielzahl von Patenten und kann auf ganzheitliche Forschungsergebnisse und Erfahrungen zurückgreifen. Damit genießt der Konzern umfangreiche Möglichkeiten für einen Technologie- und Innovationstransfer sowie für Kostensynergien und Skaleneffekte. Aufbauend auf diesen Rahmenbedingungen sollen die Rolle des Unternehmens als Brancheninnovator sowie die Förderung von Mobilitäts- und Verkehrstechnologien in Zukunft konsolidiert werden.

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In puncto Digitalisierung stellen die beiden Unternehmensbereiche vergleichbare Anforderungen – ideale Voraussetzungen für die unternehmensweite Verwendung neuer Technologien und Anwendungen. (Bildquelle: Knorr-Bremse AG)

 

Mehrwert an erster Stelle

Synergieeffekte, Technologie- und Innovationstransfer sind wichtige Schlagworte für Andreas Meinzer, Vice President IT Business Process Applications bei Knorr-Bremse Services GmbH, wo er für den globalen IT-Support für alle Konzernstandorte zuständig ist. In enger Zusammenarbeit mit speziellen Ansprechpartnern aus beiden Unternehmensbereichen werden regelmäßig die Anforderungen für neue Technologielösungen der einzelnen Unternehmensbereiche ermittelt und neue, zentral entwickelte Anwendungen getestet und eingeführt. Zu diesem Team gehören Bernhard Winkler, Director Digital Manufacturing im Unternehmensbereich „Lösungen für Schienensysteme“, und Florian Amann, Team-Leiter Technologie im Geschäftsbereich „Systeme für Nutzfahrzeuge“. „Beide Unternehmensbereiche haben vergleichbare Anforderungen und Grundstrukturen, obwohl einige Daten im Detail anders verarbeitet werden“, erklärt Andreas Meinzer. „Deshalb waren wir im IT-Service stets in der Lage, die Lösungen, die für einen Bereich entwickelt wurden, für andere Unternehmensbereiche oder Projektanforderungen und Vorschläge entsprechend anzupassen. Eine Sache fällt uns bei all diesen Synergieeffekten immer besonders auf: Es geht in erster Linie um den Mehrwert, den eine Technologielösung für die Unternehmensbereiche generiert, und weniger um die Notwendigkeit, bestimmte Technologien zu implementieren.“

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In der Vergangenheit gab es keine umfassenden Technologien, mit denen Maschinen vernetzt und KPIs wie die GAE bestimmt werden können – nun bietet Industrie 4.0 alle nötigen Tools.

Die IT-Anwendungen bei Knorr-Bremse sind stark von SAP beeinflusst. Zudem ist der Maschinenpark äußerst groß und heterogen. Unter anderem ist ein ERP-System im Einsatz, aber kein allgemeines MES-System. Schon vor fünf Jahren stellte sich die Frage, wie die Lücke zwischen dem ERP-System und den Maschinen geschlossen werden könnte und wie Informationen aus den Maschinen und dem SAP-System extrahiert und verarbeitet werden könnten. Die Maschinenschnittstelle und die Schaffung von Transparenz mithilfe von Echtzeit-Daten waren schon eine Herausforderung. Der Grad der Vernetzung war sehr gering. In standardisierten Systemen waren keine Vergleichswerte und zentralen Kennzahlen wie die Gesamtanlageneffektivität (GAE) verfügbar.

In den Betrieben gab es erste Lösungsansätze für bestimmte Themen, beispielsweise IoT-Tools, aber noch keine umfassenden Technologien. Zu der Zeit steckte Industrie 4.0 noch in den Kinderschuhen. Knorr-Bremse erkannte das Potenzial, wusste aber nicht, wie es erschlossen werden könnte.

 

Pilotprojekt für Maschinenanbindung mit ThingWorx

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Der Betrieb im bayerischen Aldersbach war Teil eines Pilotprojekts zur Vernetzung von Werkzeugmaschinen und Fertigungsstraßen. Nach der erfolgreichen Implementierung waren die ersten Betriebe von Knorr-Bremse komplett vernetzt. (Bildquelle: Knorr-Bremse AG)

 

Der Name PTC war bei Knorr-Bremse nicht unbekannt. Beispielsweise hatte der Konzern die PLM-Software Windchill® und die 3D-CAD-Software Creo® bereits einige Zeit im Betrieb. Bei einer Begegnung der langjährigen Partner im Corporate Experience Center (CXC) von PTC lernte das Team von Knorr-Bremse das Thema Smart Connected Operations (SCO) und das Potenzial der IIoT-Plattform (Industrial Internet of Things) ThingWorx® sowie der Konnektivitätsplattform Kepware® kennen. Die Entscheidung, die Technologien auszuprobieren, war schnell getroffen, um eine der grundlegenden Fragen zu klären: Wie können die Maschinen im heterogenen Maschinenpark mit zahlreichen älteren und neueren Modellen verschiedener Hersteller an einem Standort so miteinander verbunden werden, dass ein einheitliches Datenmodell entsteht und standardisierte KPIs wie die GAE automatisch und standortübergreifend erhoben werden können?

2016 wurde ein dreiwöchiges Pilotprojekt als Machbarkeitsstudie in die Wege geleitet. In den Betrieben im bayerischen Aldersbach und im ungarischen Kecskemét sollten Werkzeugmaschinen und Fertigungsstraßen exemplarisch vernetzt und als Datenquelle nutzbar gemacht werden. „Uns war bei einem solchen Projekt ein problemorientierter, iterativer Ansatz sehr wichtig. Außerdem sollte die Technologie einfach und intuitiv in der Handhabung sein, damit wir sie problemlos selbst nutzen und entwickeln können“, erläutert Martin Flassak, Solution Architect for Digital Manufacturing bei Knorr-Bremse IT, die Anforderungen.

Das Pilotprojekt war äußerst erfolgreich. Der Betrieb im französischen Lisieux war der erste, der im Frühjahr 2017 vernetzt wurde. Die Implementierung wurde bis dato in zehn Ländern wiederholt, u.a. in Österreich, England, der Tschechischen Republik und Italien. In weiteren Betrieben läuft aktuell die Implementierung. Aus technologischer Sicht markierte dieser Schritt für Knorr-Bremse einen Durchbruch. Die Vernetzung der Maschinen mithilfe von Kepware ermöglichte Knorr-Bremse den zentralen Zugriff auf verschiedene SPSen im Betrieb sowie die Erfassung von Produktions- und Prozessdaten zu Evaluierungszwecken und später für weitere Expansionsphasen auf dem Weg zur „Smart Factory“. Diese Innovationen könnten gemeinsam mit ThingWorx auch als zentraler Daten-Hub für Daten aus Windchill oder SAP fungieren.

Steuerung und Beschriftung des Projekt-Teststandes in Mailand

Am Beispiel von Microelettrica Scientifica, einer Tochtergesellschaft von Knorr-Bremse, wird deutlich, wie schnell sich aus einem Pilotprojekt eine Folgeanwendung ergeben kann. Die Kollegen in Mailand benötigten eine Software zur Verbesserung der Qualitätssicherung im Produktionsprozess. Nach ersten Gesprächen wurde Martin Flassak und Bernhard Winkler klar, dass dies ebenfalls ein Fall für ThingWorx und Kepware war. Mithilfe von ThingWorx gelang es dem Team, sämtliche Prozessphasen der Produktherstellung miteinander zu verknüpfen, inklusive des Teststandes und des Druckers für Etiketten und Versanddokumente. Nun wird auf ein Signal vom Teststand hin automatisch der komplette Druckprozess ausgelöst und dem Arbeiter grünes Licht für Verpackung und Versand des Produkts gegeben. Diese Prozesskontrolle reduziert nicht nur die Fehlerquote, sondern trägt auch dazu bei, den manuellen Aufwand für Qualitätskontrolle, Dokumentation und Versand erheblich zu senken. Diese Lösung wird auch in mehreren anderen Betrieben eingeführt.

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Microelettrica Scientifica, eine in Mailand ansässige Tochtergesellschaft von Knorr-Bremse, konnte ebenfalls von den Pilotprojekten profitieren. Über ThingWorx und Kepware sind nun sämtliche Prozessphasen in der Produktion bis hin zum Teststand miteinander vernetzt, wodurch Produktionsfehler auf ein Minimum reduziert werden. (Bildquelle: Knorr-Bremse AG)

 

Neue Evaluierungsmöglichkeiten

2016 resultierten Folgeprojekte aus dem Pilotprojekt, durch das ursprünglich Maschinen verbunden und KPIs wie der GAE-Wert automatisch berechnet werden sollten. Im Bereich der Datenerfassung wurden beispielsweise Prozessdaten von Testständen erfasst und visualisiert. Darüber hinaus kamen bei Evaluierung und Optimierung zahlreiche neue Anforderungen hinzu. Ein Fokus ist möglicherweise der Vergleich der Produktivität einzelner Maschinen und ganzer Fertigungsstraßen. Zu diesem Zweck werden u.a. die Planungs- und Zyklusdaten aus dem SAP-System mit den Ist-Werten verglichen und auf ihr Optimierungspotenzial hin untersucht.

Mit ThingWorx hingegen wird bei keinem dieser Projekte eine parallele Struktur zu den vorhandenen Systemen aufgebaut. Die IIoT-Plattform dient ausschließlich als zentraler Daten-Hub, der Informationen sammelt und Datenpakete an die richtigen Maschinen und Systeme weiterleitet. „Wir schätzen die Vielseitigkeit von ThingWorx“, so Martin Flassak. „Die Plattform ist eine Art Daten-Hub mit Mehrfachsteuerung, durch den alle bis dahin monolithischen Systeme miteinander verknüpft werden. Wir können zentrale Kennzahlen ebenso wie Qualitätskennzahlen ermitteln und sogar Prozesse im Hinblick auf die Zukunft entsprechend steuern.“

Testen der Arbeiterführung

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Vernetzte Produktionstechnologien führen Arbeiter durch die einzelnen Fertigungsschritte. Dadurch wird die Produktivität verbessert, während die Ausschussquote sinkt. (Bildquelle: Knorr-Bremse AG)

 

Das aktuelle bereichsübergreifende CAPS-Projekt (Computer Aided Production System), das gemeinsam mit dem PTC Partner Callisto Integration implementiert wird mit dem Ziel, es anschließend in 58 Fabriken in der ganzen Welt bereitzustellen, zeigt eine mögliche Zukunft für die Produktionsstandorte von Knorr-Bremse auf. Die Fertigungsstraßen bei Knorr-Bremse umfassen mehrere Montagearbeitsplätze, die täglich verschiedene Produkttypen durchlaufen, sodass mehrere Umrüstprozesse nötig sind. Visuelle Arbeiterführung ist geplant, damit gemäß den unterschiedlichen Bohrungsmustern der richtige Drehmomentschlüssel zum Festziehen sämtlicher Flansche korrekt angesetzt wird. Arbeiter werden damit Schritt für Schritt durch den Montageprozess geführt, was gerade neuen Mitarbeitern viel mehr Sicherheit gibt und die Fehlerquote reduziert. Die Produkt- und Zeichnungsdaten stammen aus Windchill und Creo, das SAP-System gibt die Anzahl der Teile und die Zeit vor. Zugleich liefern die Werkzeuge und Maschinen Messwerte in Echtzeit. Dies ermöglicht Korrekturen, wenn ein Arbeitsschritt nicht korrekt abgeschlossen wird. Zusätzlich werden die Werte in Dokumenten zur Qualitätssicherung erfasst. Änderungen am Produktentwurf werden über Creo und Windchill MPM Link bis zur Montage kontrolliert, sodass jederzeit aktuelle Montagedaten zur Verfügung stehen. „Software für Arbeiterführung war bereits am Markt erhältlich, allerdings meistens als eigenständiges System – wie die meisten anderen monolithischen Lösungen in der Fertigungsindustrie“, so Andreas Koller, CAPS-Programm-Manager bei Knorr-Bremse. „Die Möglichkeit, mithilfe der ThingWorx Anwendung Änderungen aus der Produktentwicklung papierlos, schnell und fehlerfrei an jeden Arbeitsplatz in der Produktion zu übertragen, war einer der Hauptgründe, warum wir uns für PTC entschieden haben.“ Von CAPS, das im Frühjahr 2019 ins Leben gerufen wurde, sollen bis zu 5.000 Arbeiter von Knorr-Bremse in aller Welt profitieren.

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Über ThingWorx hat die Knorr-Bremse AG Zugriff auf Echtzeit-Daten von den Maschinen – immer und überall. (Bildquelle: PTC)

 

IoT-Plattformen: Beträchtliches Potenzial

Vor der Einführung von ThingWorx gab es bei Knorr-Bremse kaum eine Möglichkeit, Echtzeit-Einblicke in die Produktionsstandorte zu erhalten. Nur wenige Jahre nach der Einführung einer gemeinsamen globalen Fertigungsplattform ist dieses Ziel nun in greifbarer Nähe. Das Potenzial ist damit noch lange nicht erschöpft – ganz im Gegenteil. Zahlreiche weitere Anwendungs- und Technologiebereiche sind vorstellbar und nehmen in den Köpfen der Verantwortlichen bei Knorr-Bremse bereits Form an. Doch alles zu seiner Zeit – damit die Entwicklung genauso erfolgreich fortgesetzt werden kann wie bisher. „Allein in den ersten anderthalb Jahren lernten wir viel darüber, was wir vernünftig implementieren können und was nicht“, erinnert sich Andreas Meinzer. Und damit meint er nicht nur technologische Aspekte: Die organisatorischen und strukturellen Bedingungen, die berücksichtigt werden müssen, sind viel wichtiger für den Erfolg von Digitalisierungsprojekten. Durch Technologie kann die digitale Journey angenehmer werden.